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Interview: IN FLAMES
Titel: Immer auf der Suche nach Neuem

Ein jeder Schwermetaller, welcher sich auch nur annähernd mit den extremeren Varianten seiner Lieblingsmusik befasst, kennt sie. Eine überwiegende Vielzahl davon schenkt ihnen in gönnerhafter Weise die Gunst. Oder verehrt, ja liebt sie nicht selten gar abgöttisch.

Nun, wie auch immer: Unumstößlicher Fakt ist jedenfalls, dass es den Schweden In Flames vom damaligen Start ihrer beispiellosen Karriere weg gelang, dem Genre so einige Klassiker des Melodic Death Metal vorzusetzen und damit gleichzeitig Richtung weisende Maßstäbe zu setzen. Wir blicken zurück: Es war im Jahre 1990, als sich der junge und aufstrebende Gitarrist Jesper Strömblad entschloss, seiner damaligen Band Ceremonial Oath den Rücken zu kehren, in welcher er mit Sänger Anders Fridén und Gitarrist Anders Iwers zusammen spielte.

Denn ihm schwebte eine große Vision vor. Eine Vision, welche erst unter einem anderen Bandnamen, dann nicht allzu lange später mit In Flames massive Gestalt annahm. Sehr schnell machte die frohe Kunde von der neuen Formation die Runde, und nicht minder schnell schien sich anfänglich das Besetzungs-Karussell zu drehen. So gaben sich Musiker wie Mikael Stanne und Anders Jivarp (Dark Tranquillity), Anders Iwers (Tiamat), Henke Forss (Dawn), Daniel Erlandsson (Eucharist, Arch Enemy) und noch so einige mehr zu Beginn die Klinke des Probenraumes in die Hand.

Dass Strömblad dennoch mit aller Beharrlichkeit an seinem Traum festhielt, war wohl höhere Bestimmung. Denn Bahn brechend meisterhafte Frühwerke wie das superbe 1994er Debütalbum „Lunar Strain“ oder das ein Jahr später erschienene Minialbum „Subterranean“ markierten gleich in der hoch ambitionierten Anfangsphase der Band die glückliche Tatsache, dass sich hier eine elitäre Vereinigung von musikalischen Ausnahmekönnern zusammengefunden hat.

Besonders „Subterranean“ erfuhr derart frenetische Resonanzen, dass unzählige Fan-Herzen dem Bandnamen entsprechend regelrecht „in Flammen“ standen, wie sich im Weiteren herausstellen sollte.

Weltweit wurde somit nachfolgend in begeistertem Maße breite Notiz von diesen sagenhaften Göteborger Death Metal-Ästheten genommen, deren signifikantes Markenzeichen neben messerscharf gespielten Gitarren-Explosionen die äußerst niveauvolle Einbringung landestraditioneller Folklore-Elemente aus der Heimat sein sollte.

Als mit sich zunehmend einstellendem Erfolg 1996 das verlockende Angebot eines Majorlabels auf den Biertisch des Bandlagers flatterte, schienen sie es geschafft zu haben: „The Jester Race“, das zweite Album erblickte daraufhin das gleißende Licht einer bereits immens an In Flames interessierten Öffentlichkeit. Der verdiente Sprung aus dem Underground vollzog sich nachfolgend in rasender Geschwindigkeit sowie in hohem Bogen. Und das zu Recht, denn dies lag nicht allein an nun erstmals massiv einhergegangener Promotion, sondern natürlich auch „The Jester Race“ selbst.

Auch diese Scheibe erwies sich als ein durch und durch genial ausgetüftelter Melodic Death Metal-Streich von hochklassiger kompositorischer Güte. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Über die nachfolgenden Jahre zeigten In Flames ihrer stetig anwachsenden Fangemeinde in immer mehr zunehmendem Maße auf, dass sie nicht nur imstande sind, sich musikalisch glaubwürdig weiterzuentwickeln, sondern dass auch auf der Bühne jederzeit mit den überaus spielfreudigen Schweden zu rechnen ist.

Und das zwar für unsere verdienten schwedischen Melodic Death Metal-Helden ungewöhnliche, aber trotzdem formidable Vorgängerwerk „Reroute To Remain“ zeigte in eindrucksvoller Weise auf, dass bei dieser Band immer mit Überraschungen zu rechnen ist. Im nächsten Jahr veröffentlichen diese Erstligisten schwedischer Todesbleischützen mit „Soundtrack To Your Escape“ den Albumnachfolger zu „Reroute To Remain“.

Kürzlich stellten Gitarrist Björn Gelotte und Shouter Anders Fridén in den berühmten belgischen Galaxy Studios im abseits gelegenen Örtchen Mol mit Produzent Daniel Bergstrand die letzten Aufnahmefeinheiten für das neue Opus fertig. Zwingender Grund für mich also, eine Flugreise nach Brüssel anzutreten. Hier trafen sich einige international angereiste Journalisten, um den neuen Ergüssen der Schweden teilhaftig zu werden und um diverse Interviews zu führen. Was mich wiederum nach dem Lauschen der Songs zu einem angeregten längeren Gespräch mit Six-Stringer Björn Gelotte führte.

Und laut seiner Aussage wollten sie sich „mit dem neuen Album auf gar keinen Fall in irgendeiner Weise wiederholen.“ Denn es gefiel In Flames sowieso schon immer, „Neues zu erschaffen statt Neuem nachzulaufen“, so Björn.

Der geplante Titel für das kommende Album wird laut Band „Soundtrack To Your Escape“ sein.

Und der an diesem Tage vorgespielte erste Track erhielt den mit gezielter Ambivalenz kokettierenden Songtitel „F(r)iend“:

Nach einem zackigen Midtempo-Beginn setzt rasch gewohnt harscher Gesang ein und eine für die Band nur zu typische Melodik macht sich breit. Nach ca. zwei Minuten zieht das Tempo dann plötzlich an, um einem Break zu weichen, welchem dann die erneut peitschende Grundstruktur des Songs folgt.

Das rhythmisch äußerst barsch gehaltene Riffing dieser Komposition koaliert mit sehr harmonischen Melodiebögen.

Ein ebenso überraschender wie cooler Opener, welcher trotz seiner etwas obskuren klanglichen Erscheinung einen repräsentativen Querschnitt aus sämtlichen bisherigen In Flames-Trademarks bietet.

Weiter geht es mit dem nächsten Lied „The Quiet Place“. Zunächst erklingt eine sphärisch anmutende Introduktion, welche sehr elektronisch klingt. Ihr folgt herrliche Melodik von hymnischem Charakter, erinnert an Hypocrisy zu ihren besten, will sagen, klanglich majestätischsten Zeiten. Ein stilvoller Mix aus Klar,- Growl- und Screech-Gesang erzeugt eine zwar irgendwie beklemmende, aber insgesamt tolle Grundstimmung, eine wirklich einnehmende Gesangstechnik wird hier von Sänger Anders Fridén dargeboten. Es fällt auf, dass dieser Song viel eingängiger ist als der vorherige, trotz stellenweise stark psychotischer Vokalisierung Fridéns. Schwere Hochdruck-Riffs werden von atmosphärisch inszenierten Chören assistiert. „The Quiet Place“ ist daher eigentlich perfekt als Single-Auskopplung geeignet.

„Borders And Shading“ lautete die nächste und gleichzeitig dritte Hörprobe an diesem Tage. Verzweifelt anmutende, klagend bestialische Gesangslinien fallen hier mit einem sehr eingängigen Grundmuster über die Ohren her – authentisch vermittelte Wut und Aggression sorgen dabei für einigen Hörgenuss. Chöre erklingen, welche unvermittelt in Klargesang überleiten. Unterlegt mit allerbester Elchtod-Gitarrenarbeit, für welche diese Band einst so berühmt wurde. Es folgt ein erhabenes Saitensolo mit recht abgedrehten Effekten, ein weiterer Lichtblick im sonst wirklich fetten Sound eines Songs voller erneuter Überraschungsmomente.

Der vierte Brecher „Discover Me Like Emptiness“ machte den Anschluss – einer verspielten Einleitung folgt simultan bedrohlicher als auch besinnlicher Gesang. Feistes Riffing stellt den ständigen Kontakt zwischen Aggression und Harmonie her. Auch hier wieder überaus abwechslungsreiche Vokale, die begeistern können. Insgesamt ein etwas verträumter Track mit eher schleppender Spielgeschwindigkeit, welcher endet wie er angefangen hat.

„Touch Of Red“ hingegen wird eingeleitet durch sehr angriffslustige und den Rhythmus betonende Gitarrenarbeit, welche an einige Nu- und Alternative Metal-Einflüsse denken lässt. Wie gesagt, vor Überraschungen ist man hier nicht sicher. Eine wahre Hitmelodie schließt sich an, welche von hackendem Drumming nivelliert wird. Trotzdem dominiert auch hier die traditionelle In Flames-Ausrichtung.

Ein Voll-in-die-Fresse-Beginn zeichnet den sechsten Song „Bottled“ aus, welcher sich nachfolgend zu einem forsch zelebrierten Todesmarsch mausert. Mid- und Slow-Tempi im adäquaten Mix gibt es hier zu hören, ständig präsente geile Tonfolgen schließen sich an. Ein zwar kurzes Lied, jedoch ein erneuter kompositorischer Volltreffer in gewohnter In Flames-Manier der kreativen Neuzeit dieser Band.

Der siebte Knaller „Dead Alone“ erhielt ein überraschend ungewöhnliches Intro, dem ausufernde Uptempo-Aggression obersten Levels energisch nachstellt. Ein quirlig gespielter und äußerst spritziger Song, welcher scheinbar einen ganzen wütenden Hornissenschwarm im Arsch hat, bisweilen überaus bombastisch arrangiert. Geil heraus gegeiferte Vocals kennzeichnen das bislang aggressivste Stück des neuen Albums. Ein richtiges Melodic Death Metal-Prachtstück mit einem allerdings total kranken Schluss.

Beim folgenden „Superhero Of The Computer Rage“ geht die Todespost dann aber wirklich ordentlich ab. Mittels Uptempo-Beginn, welcher deutliche spielerische Spuren nach sich zieht, zieht das Stück schnell, hart und unheimlich gemein vom Leder. Treibende Passagen duellieren sich mit erfrischendem Dualgesang harmonischer als auch aggressiver Natur.

Weiter ging es mit „Like You Better Dead“, das Stück hackt auf die Gehörgänge ein wie ein fleißiger Specht ins Weichholz. Ein sprunghaft rhythmischer Beginn leitet rasch über in melodische, aber hochaggressive Grundstrukturen, bemerkenswert präzise gespielt und mit tollen Gitarreneffekten angereichert. Auffällig ist hier das prima gestaltete Zusammenspiel zwischen Saiten und Sticks. Tanzt einen wahren Veitstanz, dieses Lied. Eine reife Songwriter-Leistung. Auch die restlichen Tracks namens „Dial 595 – Escape“, „Evil In A Closet“, „In Search For I“ und schließlich „My Sweet Shadow“ fallen in das beschriebene musikalische Raster, Überraschungen zuhauf inklusive.

Gitarrist Björn Gelotte hat nicht nur einen ziemlich großvolumigen Bart, nicht minder groß erscheint erneut sein Spielvermögen, lauscht man den aktuellen Songs. Wir zwei machten es uns in der großräumigen Aufnahmehalle der Galaxy Studios bequem, um nach der vorangegangenen Hörprobe tiefer auf das aktuelle Produkt seiner Band einzugehen.

„Die neuen Stücke hören sich auch für uns noch immer ziemlich differierend zu den Songs des letzten Albums an. Da wir aber bereits in der Vergangenheit zunehmend neue Gestaltungselemente in unsere Musik einfließen ließen, ist diese Erfahrung nichts grundlegend Neues für die Band. Doch das Songwriting für „Soundtrack To Your Escape“ verlief doch anders als alle anderen Kompositionsprozesse zuvor. Wir sind nun mit In Flames an einem Punkt anbelangt, an dem es uns eigentlich möglich ist, musikalisch zu tun, was wir wollen; sofern es sich in einem gewissen stilistischen Rahmen bewegt“, gibt ein ob der aktuellen Fertigstellung des neuen Albums überaus gut gelaunter Björn nur zu gerne zu. Das glaubt man ihm gerne, hört man den beispielsweise den erwähnten sehr vielseitig gestalteten Track „F(r)iend“, welcher auf der Vorabversion des aktuellen Outputs einen ebenso mutigen wie stilistisch stellvertretenden Opener darstellt.

„Das Lied besitzt in vielerlei Hinsicht eine doppelte Bedeutung. Wie der ambivalente Titel schon aussagt, werden thematisch die auseinander klaffenden Beziehungswelten von Freunden und Feinden behandelt, was ich persönlich sehr interessant finde. Denn man kann die Aussage des Songs natürlich auch auf die eigene Gedankenwelt beziehen, was ihn in meinen Augen umso reizvoller macht“, gibt mir der Gitarrist mit besonnener Miene preis. Doch mit solcherlei Texten irgendjemand den Weg weisen zu wollen, soll auch diesmal wieder gleich von vornherein als nichtig deklariert werden, wie Björn weiter klarstellt. „Jeder unserer Hörer soll sich zu diesem sowie zu den Lyrics der anderen Tracks auf der neuen CD sein eigenes geistiges Bild malen und ganz allein für sich selbst entscheiden, was er davon zu halten hat. Darum geht es. Wir wollen die Leute lediglich zum Nachdenken anregen. Wem die aktuellen Stücke sehr gefallen, der wird sicher wieder einen umso tieferen Eingang in unsere Gedankenwelten erlangen.“

Einen tieferen Einblick wollte ich jedoch erstmal in die vergangene Periode des Songwritings unserer schwedischen Helden erhalten. Und entgegen meiner geäußerten Mutmaßung, In Flames wären für ihre brandneue Flammenscheibe vordergründig einer Fülle an neuzeitlichen Einflüssen anheim gefallen, relativierte mein bärtiges Gegenüber dies recht schnell:

„Teilweise, ja. Doch im Grunde orientierten wir uns primär an unseren Roots, am Old School Florida-Death Metal, wie in die Tampa-Bay und das Morrissound-Studio Anfang der 1990er hervorbrachten. Wir sehen dies jedoch nicht als Tribut an die damalige Zeit und ihre entsprechenden Acts dieses Genres, sondern die Passion dafür entstammt unserem Inneren. Wir alle waren damals große Fans dieser Richtung. Als wir zusammen die ersten Riffs zum neuen Album ausarbeiteten, waren wir in der Stimmung, die damalig populäre Gitarren-Brutalität dieser Bands in ein modernes und vor allem melodisches Gewand zu kleiden.“

So fielen doch einige der neuen Kompositionen auf „Soundtrack To Your Escape“ laut Björns nachfolgendem Statement für viele Fans höchstwahrscheinlich überraschend hart aus. „Vor allem sehr aggressiv, aber auch sehr wuchtig. Und genau so wollten wir es, genauso fühlten wir uns während des Komponierens, welches diesmal nicht zuletzt aufgrund neuer Bedingungen so erfrischend und befreiend wie schon lange zuvor nicht mehr ausfiel.“

Im weiteren Gesprächsverlauf ging es darum, der Bedeutung des aktuellen Albumtitels gewahr zu werden. Björn erläutert: „Jeder läuft doch im Laufe seines Lebens vor irgendwas davon oder versucht zumindest, sich gewisse unangenehme Geschehnisse vom Hals zu halten. Und wir liefern den Soundtrack dafür“, entfährt es ihm schmunzelnd. Und er fügt dem an: „Dieser neue Albumtitel liegt damit exakt in der bisherigen Tradition von In Flames. Denn wir lieben es, die Leute schon mit den Titeln unserer Platten zum Innehalten und Nachdenken anzuregen.“

Die Musik erledigt dann den Rest, wie man nur zu gut weiß. In diesem Kontext war dann über die neuen Songs im Allgemeinen zu erfahren: „Wie schon erwähnt, konnten die einzelnen Tracks diesmal um einiges länger reifen, als dies früher der Fall war. Daher konnten wir im Gegensatz zu „Reroute To Remain“ eine ganze weitere Stufe in Sachen Kreativität nehmen. Für fast alles schien ein viel größeres Zeitbudget zur Verfügung zu stehen. Von der Vorproduktion über die Aufnahmen bis hin zum Abmischen und Mixen: Es herrschte nicht diese verdammte Eile und dieser unbändige Zeitdruck, was wir sonst gewohnt waren. Dies ermöglichte es uns, an vielen Details ausgiebig herumzufeilen.“

Von mir auf seine Meinung zur qualitativen Einschätzung des neuen Songmaterials angesprochen, gibt der Gitarrist mit aller Selbstsicherheit unumwunden zu Protokoll, samt der Band mit „Soundtrack To Your Escape“ die bisher beste und vor allem ausgereifteste künstlerische Leistung überhaupt in der Historie von In Flames zustande gebracht zu haben:

„In Flames sind eine Band, die niemals dieselbe Platte zweimal aufnehmen würde, nur weil das irgendjemand von uns erwartet. Andere machen das vielleicht und fahren auch ganz gut damit, für uns wäre es aber nicht sehr interessant. Wenn ich mir beispielsweise ein neues Album von einer meiner Lieblingsbands anhöre, möchte ich doch auch immer eine gewisse Weiterentwicklung dokumentiert bekommen. Sonst bin ich enttäuscht.“

So spricht ein Musiker, der spürbar hinter dem steht, was er sagt. „Ich verlange in dieser Richtung beileibe nicht zuviel, so wie wir als Gruppe auch von uns nicht zuviel verlangen. Denn damit läuft man nur zu schnell Gefahr, surrealistisch zu denken, die Orientierung über die eigene Kunst zu verlieren und schließlich und letztendlich kreativ auszubrennen, die Lust an der eigenen Sache zu verlieren. Es müssen auch nicht jedes Mal gleich zwei Stufen in Sachen Weiterentwicklung genommen werden, aber eine auf jeden Fall.“

Bei der schwedischen Melodic Death Metal-Institution musste man sich glücklicher Weise auch diesmal keinerlei diesbezüglichen Gedankengängen hingeben. Für Björn nach wie vor überhaupt kein Thema: „Bei uns verläuft seit jeher alles überwiegend nach intuitiven Vorgängen. Wir sind eine Band, die sich viel von den jeweiligen Emotionen leiten lässt. Wenn ich genauer drüber nachdenke und mich zurückbesinne, prägte sich dies sogar mit den Jahren immer mehr in uns aus. Nicht umsonst haben wir uns zu keiner Zeit irgendwelchen Marktmechanismen oder Trends unterworfen und davon die musikalische Ausrichtung diktieren lassen.“

Nachdem ausgiebig über musikalische Belange diskutiert wurde, ließ es sich Mr. Gelotte im Weiteren nicht nehmen, erneut auf die Entstehung der aktuellen Lyrics einzugehen, was mir und meiner Neugier nur Recht sein konnte. „Unser Shouter Anders Fridén schrieb auch diesmal wieder sämtliche Songtexte. Dabei bewegt er sich immer recht unvoreingenommen durch seine Zeilen, soviel ist sicher. Er hat eine ausgeprägte und sehr eigenständige Persönlichkeit, was ihm dabei sehr hilfreich zu sein scheint. Anders gibt seine Gedanken in den Texten auch auf „Soundtrack To Your Escape“ nicht mit leicht verständlichen Worten wieder, wie uns im Laufe der Arbeitsphase zum Album abermalig bewusst wurde. Sein mit bewusstem philosophischem Tiefgang Niedergeschriebenes besteht nicht aus der banalen Reflexion von lediglich Erlebtem oder irgendwelchen intensiven Tagträumereien – er sieht imaginative Dinge in seiner Vorstellung real passieren. Dies verlieht ihm erneut die Möglichkeit, selbst abstraktesten Themenkreisen lyrisches Leben einzuhauchen. Die gedanklichen Bilder, die er dabei vor seinem geistigen Auge sieht, malt er mit wunderbaren Worten.“

Die Interpretation der geistigen Kopfgeburten Fridéns bleibt jedoch diesmal erneut komplett dem Konsumenten überlassen. Denn mehr Informationen dazu konnte oder wollte mein Interview-Partner auch zu diesem Zeitpunkt des Dialogs nicht herausrücken. Doch Björn behält gewisse Deutungen ganz bewusst bei sich, wie sich nachfolgend herausstellte. „Es ist doch viel spannender, beim Hören eines Songs und gleichzeitigen Aufsaugen seines Textes immer wieder neue mentale Wege zu beschreiten, so bleibt die Sache mitunter ein Leben lang spannend.“ Da hat er zweifellos voll und ganz Recht, wer will hier schon widersprechen?

Wir hingegen sprachen im nachfolgenden Gesprächsverlauf über eine gewisse astrale Atmosphäre, derer ich mich während des Hörens einiger neuer Melodic Death Metal-Hits von In Flames nicht erwehren konnte. Als würden Mond und Sterne im Duett wehklagen und hell schimmernde Tränen über dem leuchtenden Nachthimmel vergießen. Erfreuliche Erinnerungen, Gedankenfragmente an Knüller wie „Lunar Strain“ oder „Subterranean“ wurden dabei in mir wiedererweckt. Dies freute den guten Björn sichtlich, denn anscheinend habe ich hier seine ureigene Meinung wiedergegeben. „Wir wissen trotz unseres großen Erfolges immer noch ganz genau, wo wir herkommen und wer wir sind. So gehen wir von Zeit zu Zeit gerne wieder zurück zu den einstigen musikalischen Anfängen. Wir sehen diese kreativen Ausflüge jedoch nicht als Rückkehr zu den Wurzeln, sondern als das Ausleben dessen, was wir aus der Vergangenheit in die künstlerische Zukunft mitgenommen haben.“

Wie sich bei dieser sehr angeregten Unterhaltung dann weiter auftat, haben Jesper und Björn fast ein ganzes Jahr lang an den neuen Stücken für „Soundtrack To Your Escape“ komponiert und gefeilt. Und weil er eine ganze Menge an reizvollen Ideen in sich aufkeimen spürte, fing der fleißige Björn laut eigener Aussage auch um einiges früher damit an, als er dies bislang vor einem neuen Album gewohnt war:

„Obwohl ich an manchen Tagen stellenweise vor Tatendrang geradezu übersprudelte, behielt ich stets die Kontrolle über meine Kreativität. Nicht, dass Komponieren und Songwriting bei mir nach genauen Regeln ablaufen, aber eine gewisse Disziplin benötigt man nun einmal, um gute Resultate zu erzielen. Ich kann beispielsweise keine Riffs oder Melodien ausarbeiten, wenn ich dabei fremde Musik oder irgendwelche ablenkenden Geräusche höre.“

Gute Ideen für Songs hat der Bart tragende Axeman selbstverständlich auch nicht gepachtet, wie er mit einiger Natürlichkeit zugibt. „Erzwungen wird nichts. Meistens kommt mir ein zündender Einfall für einen Song sowieso, wenn ich es am wenigsten erwarte. Beispielsweise, wenn ich ein Buch lese oder ähnlicher Stille ausgesetzt bin und dabei über alles Mögliche nachsinniere. Dann renne ich immer so schnell als möglich zu meinem Computer, stöpsle meine Gitarre an und lasse meinen Eingebungen völlig freien Lauf. Was immer mir dabei in den Sinn kommt, ich nehme es erstmal auf. Denn manchmal vollzieht es sich auch, dass aus einer anfänglich unbrauchbaren Idee bei entsprechend unverkrampfter Hingabe eine richtige Song-Bombe wird. Sechs von zehn Mal kommt zwar Scheiße dabei heraus, aber der Rest, und das ist nicht wenig, ist doch sehr brauchbar und wird weiter verfeinert.“

Bei solch steten künstlerischen Streben ereignen sich durchaus auch erheiternde Begebenheiten im täglichen Leben eines ambitionierten Komponisten, wie Björn mir abschließend die gewünschte amüsante Randnotiz liefert: „Yeah, mitunter kann es schon vorkommen, dass ich, um etwas Abwechslung zu bekommen, beispielsweise mit dem Bus irgendwohin fahre und mir genau dabei die ersehnt geile Melodie in den Sinn schießt. So kann es dann auch sein, wie in der Vergangenheit bereits geschehen, dass ich genau diese kleine Melodie solange im Geiste vor mich hinsummen muss, bis ich wieder die Möglichkeit einer Aufnahme habe.“

Resumée: Björn Gelotte zu den frühen Veröffentlichungen von In Flames

„Lunar Strain“ – 1994

Björn: „Das war noch, bevor ich zu In Flames als Musiker dazukam. „Lunar Strain“ war überhaupt mein allererster Kontakt mit der Band, um ehrlich zu sein. Ich erinnere mich jedoch noch zu gut an meine riesige Begeisterung, als ich das Ding zum ersten Mal hörte – ich war wirklich völlig von den Socken. Niemals zuvor vernahm ich etwas in dieser Art. Ich hörte natürlich zu dieser damaligen Zeit bereits eine ganze Menge an (Death) Metal-Bands, aber etwas dermaßen Melodisches und Tolles war wohl nicht nur mir völlig neu. Der erste Song, den ich mir anhörte, war `Behind Space`. Ein vollkommener Genuss, wirklich, nicht nur wegen des einzigartigen Gesangs, den Mikael Stanne von Dark Tranquillity dafür einbrachte. Ich wusste gleich intuitiv, dass dies genau das sein sollte, was ich zukünftig machen würde. Kurze Zeit später wurde ich dem Gitarristen Jesper Strömblad – auf mein Drängen hin – über einen Bekannten vorgestellt, was sich als echter Glücksfall für mich erwies. Denn nicht nur Jesper und ich verstanden uns sofort prächtig, auch mit dem Rest der Band entwickelte sich rasch eine tolle Freundschaft. Daher wollte ich unbedingt so schnell als nur irgend möglich bei In Flames einsteigen.“

„Subterranean“ – 1995

Björn: „Meine Beharrlichkeit zahlte sich aus: Die Jungs ließen mich noch während der Aufnahmen zu diesem Minialbum bei sich einsteigen. Sie suchten einen Trommler. Da ich ein wenig Erfahrung darin hatte, war dies meine Möglichkeit zum Einstieg. [Natürlich eine Untertreibung seiner eigenen damaligen Fähigkeiten, wie sie nur zu typisch für den sympathischen Zeitgeist Björn Gelotte ist; A.d.A.] Es war irgendwie witzig, denn In Flames glichen zu diesem Zeitpunkt mehr einer Projektband. Ich sowie der noch aktive Drummer sowie mehrere Session-Vokalisten. Obwohl mein Name im Booklet der Erstpressung auf Wrong Again Records als Drummer vermerkt ist, spielte ich die Drums dafür gar nicht ein. Die Schlagzeug-Parts, speziell auf den ersten beiden Tracks `Stand Ablaze` und `Ever Dying` sind einfach fantastisch geworden. Was auch den einzigen Zweifel in mir auslöste, der Band beizutreten, denn dieser Drummer war echt wahnsinnig gut. Doch ich übte wie ein Verrückter und schließlich entwickelte sich für mich alles zum Besten. Mein Einstieg war beschlossene Sache.“

„The Jester Race“ – 1996

Björn: „Mein eigentlicher Einstieg als Drummer. Ein sehr markanter Punkt in meinem Leben als Musiker. Hier versuchten wir erstmals bewusst, etwas wirklich Eigenständiges zu machen. Die ganze Mannschaft ging daher mit größtmöglicher Hingabe zu Werke, wir probierten eine Menge an unterschiedlichen Dingen dafür aus. So wurden erstmal die Gitarren um einiges tiefer getunt, auch bemühten wir uns um einen merklich brutaleren Gesamtsound. Da wir uns dafür einige Zeit lassen konnten, wurde auch das überwiegende Equipment ausgetauscht. Mehrere Leute aus der Band schrieben zudem an den neuen Stücken mit und brachten ihre jeweiligen Inspirationen ein. Ich hingegen brachte durch meinen überwiegenden Rock- und Heavy Metal-Background eine ganze Menge an entsprechenden Einflüssen mit, was offenbar perfekt ins neu anvisierte stilistische Konzept zu passen schien. Das prägnante Cover-Artwork von Andreas Marschall kam da gerade recht. Er hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu viel für Bands aus unserem Metier gearbeitet – was sich ja später noch entscheidend ändern sollte, wie man weiß.“

„Whoracle“ – 1997

Björn: „Mit diesem Album hatten wir so einige Probleme zu bewältigen. Nicht während des Kompositionsprozesses oder während der Aufnahmen; nein, da schien noch alles im Lot zu sein. Die Schwierigkeiten gingen erst nach der Veröffentlichung los. Eine große Anzahl von Touren schloss sich nämlich dem Release an, und einige Leute in der Band hatten da – gelinde gesagt – offenbar keinen allzu großen Bock drauf. So entschlossen sich daraufhin mit dem damaligen Bassisten und dem zweiten Gitarristen zwei der Bandmitglieder dazu, ihren Dienst bei In Flames zu quittieren. So blicke ich mit gemischten Gefühlen auf „Whoracle“ zurück, denn ich verlor dadurch nicht nur ans Herz gewachsene Bandkollegen, sondern auch zwei sehr gute Freunde. Nachdem wir mit dem Touren begonnen hatten, zeichnete sich die drohende Misere schon recht bald ab. So kam irgendwann Daniel Svensson von Sacrilege als neuer Drummer, ich hingegen wechselte fürderhin an die Gitarre. Das war gut so, denn Daniel spielte unsere Songs, obwohl er mir sehr nervös schien, schon beim ersten Rehearsal um einiges besser als ich.“

Neuzeitliche Selbstsicht: Björn Gelotte zu den aktuelleren Werken von In Flames

„C∙o∙l∙o∙n∙y“ – 1999

Björn: „Erneut bestand für uns als Band hinsichtlich dieses Albums ein großer Unterschied gegenüber dem, was wir noch zuvor gemacht hatten. Nicht, wie wir die Songs schrieben, sie ausarbeiteten und arrangierten, sondern speziell im Feeling, welches wir dabei hatten. Dies resultierte jedoch nicht allein aus der Tatsache heraus, dass ich mich nun endlich an der Gitarre verwirklichen konnte, sondern auch daraus, dass wir einen neuen Bassisten und mit Daniel einen neuen Trommler bei In Flames hatten. Erstmalig wurde auch damit begonnen, die Spielweise der Keyboards zu modifizieren bzw. umzustrukturieren. Da alle Bandmitglieder auch diverse andere Instrumente spielen können, wurde eine ganze Menge an Ideen für die Songs und Sounds von „Whoracle“ ausprobiert. Diese verstärkte Zusammenarbeit ermöglichte uns wiederum ein scheinbar sehr viel praktischeres, und irgendwie gleichzeitig auch einfacheres kollektives Komponieren. So gestaltete sich das Songwriting dadurch um einiges intensiver, was dem Album auch deutlich anzuhören ist. Endlich hatten wir ein hervorragendes und beflissenes Team beisammen, was sich natürlich auch sehr positiv auf den nachfolgenden Gigs bemerkbar machte. Jeder von uns gab wirklich volle 100 %.“

„Clayman“ – 2000

Björn: „Hier verwendeten wir erstmals Samples, auch die Präsenz der Keyboards wurde verstärkt. Unsere Musik nahm aber nicht nur dadurch eine neue Dimension an. Auch durch die mannigfaltigen Erfahrungen, welche uns all die vielen Touren zu „C∙o∙l∙o∙n∙y“ einbrachten. Denn aufgrund der vielen Live-Auftritte verbesserte sich unser Zusammenspiel enorm, und wir konnten die Dinge mit einer Art gesteigerten Professionalität angehen. Das führte dazu, dass wir bei In Flames erstmalig sämtliche Stücke für ein Album in Gemeinsamkeit schrieben. Ich und Jesper arbeiteten zwar auch hier für „Clayman“ noch immer die hauptsächlichen Basiselemente unserer Musik aus, doch die anderen beteiligten sich diesmal massiv an den ganzen Arrangements der Songs und brachten ihre Ideen dazu. Der Teamgeist in der Band schien tatsächlich größer denn je zuvor, und das war auch bitter nötig, denn wir tourten im Anschluss an die Veröffentlichung soviel wie nie zuvor. Die Belohung dafür war der wirklich immense Erfolg dieser Scheibe, der es uns schließlich erstmalig ermöglichte, unser Leben komplett durch die Musik finanzieren zu können. Das Cover-Artwork übernahm hierfür übrigens Axel Hermann, welcher damit den zu dieser Zeit schon recht viel beschäftigten Andreas Marschall ablöste.“

„Reroute To Remain“ – 2002

Björn: „Hierfür wechselten erstmals den Produzenten. Wurden die bisherigen Alben noch mit Fredrik Nordström in den Fredman Studios aufgenommen, nahm sich nun Daniel Bergstrand in seinen Dug-Out Studios im schwedischen Uppsala der Sache an. Auch für „Reroute To Remain“ lautete die primäre Direktive, den Fans weiterhin interessante Songs bieten zu können. Die Zusammenarbeit mit Bergstrand brachte eine ganze Menge frischen Blutes in die Adern unseres Kreativitätsgefüges. So veränderten sich auch die Songs für dieses Album merklich. Wir nahmen unsere typischen Gitarrenmelodien ein wenig zurück, um so den melodischen Gesangslinien ein wenig mehr Entfaltungsraum zu ermöglichen. Um diese und andere Veränderungen in unserem Sound auch bereits wieder mit dem Cover-Artwork ersichtlich zu machen, entschieden wir uns dafür, Niklas Sundin damit zu beauftragen. Wir kennen und schätzen ihn schon seit Jahren, auch arbeiteten wir mit ihm in der Vergangenheit so manchen Songtext aus. Niklas weiß genau, worauf es uns bei In Flames ankommt, so fruchtete auch die gemeinsame Ausarbeitung des Cover-Konzepts sehr. Auch „Reroute To Remain“ war ein riesiger Erfolg für uns. Es schlossen sich diverse Support-Touren an, darunter für Slayer, was eine große Ehre für uns darstellte.“

„Soundtrack To Your Escape“ – 2004

Björn: „Ich bin sehr glücklich damit. Es ist natürlich immer verdammt hart, sich als Bandmitglied für einen Favoriten der ganzen Alben von In Flames zu entscheiden, aber dieses neue Album ist mein ganz persönliches Lieblingswerk. Es klingt so frisch, so unverbraucht. Ein hartes und schwieriges Stück Arbeit liegt hierfür hinter uns, wie man sich leicht vorstellen kann. „Soundtrack To Your Escape“ sollte ein komplett neues und innovatives Album werden. Anfänglich verbrachten wir daher erst mal einige Wochen in Dänemark, wo wir ein Haus voller Equipment mieteten und uns darin einnisteten. Dies kristallisierte sich schnell als goldrichtig heraus, denn wir hatten einen riesigen Spaß dort, was nicht zuletzt an der neuen Umgebung lag. Unser hochgestecktes Ziel konnten wir somit erreichen: Das neue Album ist nicht mehr so hocheingängig und vor allem nicht mehr so schnell in seiner komplexen Gesamtheit zu durchschauen, wie dies früher bei uns der Fall war. Die Atmosphäre von „Soundtrack To Your Escape“ würde ich nicht als psychotisch bezeichnen. Eher als dunkler und tiefgründiger.“

© Markus Eck, 26.01.2004

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