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Interview: THEATRE OF TRAGEDY
Titel: Neuer Teamgeist

Ihr Beitritt zu dieser berühmten norwegischen Formation sollte 1994 in Stavanger für eine hoffnungsvolle junge Sängerin zur ersten Stufe einer hohen Karriereleiter werden: Liv Kristine Espenæs. Mit ihrer die Sinne massiv bezirzenden Engelstimme und dem mordstiefen Grollgesang von Bandleader Raymond I. Rohonyi trat eines der bisher prägnantesten und erfolgreichsten Vokalduos des gesamten Gothic Metal-Metiers ins Rampenlicht. 1994 resultierte das Zusammenspiel von Theatre Of Tragedy im ersten Demo, ein Jahr später sorgte das schlicht selbst betitelte Debütalbum für riesengroßes Aufsehen. Und für wohl noch größeren Erfolg.

Dunkle und sehnsüchtige Romantik spielt dabei sowohl musikalisch als auch textlich eine große Rolle, welche von Raymond verstärkend mit altenglischen Lyrikergüssen repräsentiert wird. Die Fans fraßen diesen skandinavischen Mondschein-Theatralikern schon aufgrund des – damalig noch einen Einmaligkeitsstatus besitzenden – Debüts direkt aus der Hand, was sich mit dem 1996er Albumnachfolger „Velvet Darkness They Fear” gar noch verstärken sollte.

Dabei war es primär wohl die faszinierende stimmliche Ausstrahlung der semmelblonden Liv, welche die Goth-Massen verzückte – denn schon bald setzte sie ihr Soloprojekt in Gang und brillierte auch auf anderen Platten, darunter Atrocity´s „Werk 80“. Mit deren Bandleader und Studiobesitzer, Langhaar-Rekordler Alex Krull, verbrachte Liv auch nach Beendigung der Studioaufnahmen für „Werk 80“ viel Zeit – heute sind sie bekanntermaßen verheiratet und haben seit 18.12.03 einen gemeinsamen Sohn.

Mit dem 1998 erschienenen Studioalbum „Aégis” überschreiten Theatre Of Tragedy ihre bisherigen stilistisch limitierten Grenzen ganz bewusst und setzen nicht wenige klanglich eher moderne, darunter auch elektronische Elemente ein, was einem großen Teil der alten Fans ziemlich befremdlich vorkommt. Nicht wenige wenden sich ab. Der Stern der Band verliert an Glanz.

Unmut macht sich nach und nach breit, was sich auch durch Wechsel im Line-Up abzeichnet. Doch Theatre Of Tragedy verfolgen die eingeschlagene neue Richtung beharrlich, zudem wird der Sound der Gruppe immer poppiger.

Interne Unstimmigkeiten über die weitere stilistische Ausrichtung führen immer stärker zu diversen Querelen, was dazu führt, dass Liv mit Ehemann Alex und einem Teil der Atrocity-Mannschaft die Symphonic Epic Metal-Band Leaves´ Eyes ins Leben ruft, um ihrer eigenen Vision von schwermetallisch-melodischer Musik Ausdruck zu verleihen: Das 2004er Debütalbum „Lovelorn“ erinnert mit seiner klanglichen Erscheinung an etablierte Gothic Metal-Bands wie Within Temptation, Evanescence oder Nightwish und avanciert zum Überraschungserfolg. Dies wiederum führt unter anderem dazu, dass Raymond & Co., zu dieser Zeit ohnehin genug durch die eigene Misere frustriert, der guten Liv kündigen.

Den vakanten Posten übernahm nach einiger Zeit die attraktive Nell Sigland von den Gothic Rockern The Crest. Aktuell haben Theatre Of Tragedy einen neuen Label-Deal bei AFM Records unterzeichnet, so wird die längere Veröffentlichungspause in absehbarer Zeit von einem neuen Studioalbum unterbrochen, welches voraussichtlich im März 2006 in den Regalen stehen wird. Die Studioaufnahmen zum noch unbetitelten Musikwerk, welches in gewissem Sinne auch die schwere Bürde einer Comeback-Platte zu erfüllen hat, sind beinahe abgeschlossen, als Nell abendlich in Oslo für mich zum Telefonhörer greift.

„Als ich eines Tages einen unerwarteten Anruf von Theatre Of Tragedy bekam, ob ich die Nachfolge von Liv antreten wolle, war ich ehrlich gesagt schon ziemlich überrumpelt. Und: Ich bat mir erstmal um Bedenkzeit. Man sagte mir, meine Stimme wäre von der gesamten Band einschlüssig ausgewählt worden, nachdem sie sich die Musik angehört hatten, die ich mit The Crest mache – aktuell ist ja gerade vor kurzer Zeit unser zweites Album `Vain City Chronicles` erschienen.“

Als Nell den Telefonhörer wieder auflegte, konnte sie es kaum glauben.

„Ich konnte mir wirklich nicht mal im Traum vorstellen, bei dieser `großen` Band einzusteigen. Doch nach einigem Hin und Her und einer Unzahl an Überlegungen entschloss ich mich dann doch dazu, es zu versuchen. Ich rief zurück und wir wurden uns im Weiteren rasch einig, wie die Sache abzulaufen hatte“, berichtet mir die dunkelhaarige und scheinbar sehr sanftmütige Nachfolgerin.

Ihre anfängliche Nervosität verflog mit jedem Treffen und Proben, wie sich Nell zurückerinnert:

„Die Jungs waren sehr nett zu mir, um es mir so angenehm wie möglich zu machen. Das verschaffte mir eine große Erleichterung, und nachdem die zwischenmenschliche Hürde so gut genommen wurde, ging es auch gleich in den Probenraum. Ich bin froh, dass das neue Material nun wieder mehr in die musikalische Richtung der alten Alben von Theatre Of Tragedy geht, denn die letzten Alben waren schon recht komplex angelegt und daher beileibe nicht einfach zu verstehen beziehungsweise zu erfassen. Das neue Material klingt eigentlich wie ein natürlicher kompositorischer Nachfolger zum 1998er Album `Aégis`, ist aber wieder viel rockiger und insgesamt auch härter, als dies auf den letzten beiden Studioablen von Theatre Of Tragedy der Fall war. Zahlreiche Electronics sind auch wieder mit von der Partie, aber selbst diese wurden klanglich viel düsterer und dunkler aufbereitet, als dies in der jüngeren Vergangenheit der Fall war. Ich liebe die neuen Stücke auf jeden Fall sehr und kann es nun kaum noch abwarten, bis das neue Studioalbum mit mir als hier debütierender Sängerin endlich erscheint. Daran zu denken, macht mich ganz schön aufgeregt; ein sehr angenehmes Gefühl, wie ich finde.“

Wie die Vokalistin mit der angenehmen Gesprächsstimme beteuert, erfolgte der stilistische Richtungsumschwung ihrer `neuen` Band jedoch nicht aufgrund der immer defizitärer gewordenen Erfolgssituation der letzten Jahre, welche durch die immer stärker gewordene Sound-Modifikation einherging. „Nein, das ist absolut nicht der Fall. Ganz sicher. Das hätte ich mitbekommen, dafür kenne ich sie alle mittlerweile viel zu gut. Ich denke, Theatre Of Tragedy haben bisher stets, zu jeder Zeit ihrer Karriere ganz genau das gemacht, wonach ihnen der künstlerische Sinn stand. Auch jetzt, mit dem kommenden Album. Die Scheibe spiegelt exakt das wider, was die Urheber kreieren wollten. Niemand außer der Band selbst hat das verursacht. Klar, in der Vergangenheit rieten ihnen viele erfahrene Leute in oftmals auch wohlwollender Manier, in welcher Weise sie zu musizieren hätten, damit alles nach Business-Plan läuft. Doch Raymond und seine Mitmusiker ließen sich da zu keiner Zeit dreinreden. Und das kann ich mittlerweile ja auch gut bestätigen.“

Die neuen Stücke entstanden nach und nach, gearbeitet wurde dabei sehr viel mit via Email hin und her gesendeten MP3s:

„Die Jungs leben ja in Stavanger. Wenn ich da mit meinem Auto hinfahre, brauche ich glatt ganze acht Stunden. Wenn es zeitlich nicht anders ging, nahm ich mir hin und wieder aber auch einen Flug. Durch die große Distanz zu meinem Wohnort Oslo war es für alle Beteiligten überaus praktisch, über Emails zu kommunizieren. Außerdem konnte ich meinen Gesang in aller Ruhe auf die Lieder ein- und abstimmen, was für mich sehr wichtig war. Ich brauche da meine Zeit, um ein gewisses Gefühl dafür zu entwickeln, und das funktioniert sowieso immer am besten, wenn ich es ganz alleine machen kann – ohne, dass jemand neugierig zuhört.“

Die anschließenden Aufnahmen im Osloer Toproom-Studio waren für alle beteiligten Bandmitglieder nicht einfach im Zeitplan unterzubringen, wie Nell, die in dieser Angelegenheit einen absoluten Heimvorteil hatte, berichtet.

„Hier haben auch schon solch unterschiedliche Gruppen wie Tristania und Mayhem aufgenommen, aber auch eher progressive Bands wie Extol. Eines der größten Probleme, vor dem wir standen, war die Abkömmlichkeit der einzelnen Musiker aus Stavanger. Jeder aus der Band hat ja unter der Woche seinen mehr oder weniger stressigen Job zu erledigen. Aus diesem Grund waren wir bis jetzt leider noch kein einziges Mal alle komplett zusammen im Toproom-Studio vereint. Jeder nahm sich Zeit, wann er konnte, stimmte die Termine mit dem Studioleiter ab, reiste an und nahm dann individuell in einzelnen Abschnitten seine Parts auf. Von meiner Wohnung ist das Studio glücklicherweise nicht allzu weit entfernt, so konnte ich mich bestens mit dem dortigen Produzenten Borge Finstad arrangieren. Diese Woche haben wir die Aufnahmen des Schlagzeugs, der Bassgitarren und Keyboards abgeschlossen. Nächste Woche werden Raymond und ich dann an den Gesangsspuren arbeiten. Ich sehe dem mit einiger Vorfreude entgegen.“

Nell offenbart mir abschließend noch, dass Raymond in gewohnter Manier auch für das kommende neue Album wieder sämtliche Songtexte im Alleingang geschrieben hat, diese jedoch nach einer ersten Sichtung der Sängerin zum Großteil wieder umschreiben musste.

„Ich lege größten Wert darauf, dass ich mich mit dem, was ich singe, auch vollständig identifizieren kann. Sonst kann ich meine Seele beim Singen nicht vollständig aushauchen. Viele seiner neuen Textzeilen muteten aus meiner persönlichen Sichtweise ziemlich seltsam an, sodass ich ihn in aller Ehrlichkeit vor die Entscheidung stellen musste: Entweder er schrieb die betreffenden Texte gänzlich neu, oder ich singe sie nicht. Dies war wohl eine gute Belastungsprobe für uns beide: Denn er schrieb sie für mich um. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Ich spüre, wir werden ein gutes Team abgeben.“

© Markus Eck, 16.10.2005

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