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Interview: NOCTE OBDUCTA
Titel: Totlebendig

Als eine der beständigsten einheimischen Schwarzmetallkapellen müssen die kreativen Freigeister aus Mainz längst niemandem mehr etwas beweisen.

Heuer legen die Avantgardisten überraschend schnell nach. Und vor allerlei Überraschungen soll man gemäß dem erfolgreich vollzogenen Trachten der querköpfigen Urheber abermals gar nicht sicher sein. Musikalisch wird die gesamte Entwicklungsspanne von Nocte Obducta durchreist.

Und das neueste Langwerk „Totholz (Ein Raunen aus dem Klammwald)“ führt die Reihe der urtypischen Albumtitel munter fort. Gründer, Mainman, Hauptkomponist und Bassist Marcel steht noch immer eisern hinter dem Schaffen seiner Formation.


Wie er zu berichten weiß, wollten Nocte Obducta nach dem 2016er Album „Mogontiacum (Nachdem die Nacht herabgesunken)“ die Fans nicht erneut länger auf einen weiteren Langspieler harren lassen.


„‚Material übrig‘ ist die falsche Formulierung und ‚Material in den Schubladen‘ hätte ich auch jetzt noch für einige Alben. Wir wollten einfach nicht wieder Ewigkeiten ins Land gehen lassen. Klar ist das Thema Zeit heute komplizierter, sechs Leute mit sechs verschiedenen Vollzeitjobs und Privatleben sind einfach nicht mehr so leicht als Band zu organisieren wie es früher der Fall war. Trotzdem habe ich im Frühling 2016 einfach beschlossen, dass es im Winter wieder ins Studio geht.“

Denkt er an die Veröffentlichung von „Totholz (Ein Raunen aus dem Klammwald)“, geht es ihm sehr gut, wie er sagt. „Aber offen gestanden ist es nach so vielen Alben nicht mehr so aufregend wie früher.“

Zu neuen Elementen in der aktuellen Musik befragt, gerät der Mann in deutliche Nachdenklichkeit. „Das ist für mich - insbesondere mit so wenig zeitlicher Distanz - echt schwer zu sagen, wir haben aber wieder mehr mit analogen Bandmaschinen gearbeitet und etwas komplizierter gebastelt als es sich anhört. Wir haben auch auf den beiden Vorgängern neben älteren Ideen auch Passagen älterer Aufnahmen eingebaut, im Falle von ‚Glückliche Kinder‘ sogar ein Soundfragment von 1994. Doch der ausgedehnte erste Teil von ‚Wiedergänger Blues‘ besteht in der Grundlage tatsächlich aus Aufnahmen von 2007, die eigentlich nur als Skizzen gedacht waren und dann komplett verloren gingen. Wir hatten nur noch den Mixdown ohne Tempo und einzelne Spuren, der dann umgeschnitten und um die übrigen Spuren erweitert wurde.“

Die Unterschiede dieses Albums insbesondere zu seinen beiden Vorgängern sind laut Marcel primär ohnehin in der inhaltlich freieren Arbeitsweise bei gleichzeitig bewusst strafferem Zeitplan zu suchen. Für ihn steht in diesem Kontext fest:

„Die Musik ist nie und immer aktuell, sie muss authentisch sein und im Rahmen des Möglichen nicht unterirdisch dilettantisch.“


Für den Bassisten gibt es dabei auch keinen Unterschied zwischen älteren und jüngeren Veröffentlichungen der Band.

„Musik soll berühren, im Idealfall bereichern, und wenn dann sogar die Kreativität des Hörers angeregt wird, muss man dem nichts hinzufügen. Die Frage, was die Musik bei anderen auslöst, stelle ich mir nicht wirklich.“

So gestaltete sich die Songauswahl fürs neue Werk auch nicht wirklich als ein gesteuerter Prozess, wie zu erfahren ist.

„Ich habe nach der Fertigstellung von ‚Mogontiacum‘ einfach spontane Ideen fließen lassen und außerdem älteres oder unfertiges Material, das mir gerade am Herzen lag, wieder aufgegriffen. Unter anderem der ‚Wiedergänger Blues‘ stand dabei schon sehr lange fest. Im Vergleich zum Vorgängeralbum gab es aber tatsächlich den entscheidenden Unterschied, dass mir die Realisierbarkeit des Albums im von mir gesetzten Zeitrahmen sehr wichtig war. Bei der Fülle an Material, aus der wir da schöpfen konnten, war das aber ein Luxusproblem.“


Auf jeden Fall, so wird verkündet, ist der schwarzmetallische Anteil auf „Totholz (Ein Raunen aus dem Klammwald)“ wieder wesentlich höher als in den vergangenen Jahren. „Ich würde das Album auch als deutlich düsterer als seinen Vorgänger beschreiben. Das Spielen mit Sounds fehlt natürlich trotzdem nicht. Diese oft als psychedelisch oder experimentell beschriebene Seite ist für uns aber eigentlich schlichtweg integraler Bestandteil des Sounds und nicht irgendeine besondere Zutat, die man extra erwähnen muss. Das hört sich immer so an, als machten wir eine gewisse Art von Musik und erweiterten sie um bestimmte Bausteine oder Schmuckwerk. Der Sound ist wieder sehr direkt, analog und dynamisch, aber wir haben den Mix diesmal deutlich Metal-typischer gestaltet. Die Gitarren sind also wieder viel dominanter als zuletzt und der Sound geht ein klein wenig mehr in die Breite. Wer aber auf den gängigen modernen Metal-Sound gleich welchen Subgenres steht, könnte auch diesmal eine Enttäuschung erleben.“ 


Für die Wahl des Albumtitels „Totholz (Ein Raunen aus dem Klammwald)“ kamen ziemlich viele Aspekte zusammen.

„Totholz hieß mein Black Metal-Projekt in der Zeit, in der Nocte Obducta sich Dinner Auf Uranos nannten. Das in dieser Zeit entstandene Material landete teilweise auf ‚Verderbnis‘, teilweise in Schubladen. Das namengebende Lied schrieb ich, als ich mich gerade mit dem Gedanken anfreundete, die drei Inkarnationen der Band unter dem naheliegenden Namen Nocte Obducta wieder in einen Topf zu schmeißen. Vor Augen hatte ich dabei immer das im Booklet zum Text abgebildete Foto mit den Spinnennetzen im Totholz, das mein Vater in Irland gemacht hatte und das seit der Bildersuche zum Debüt ‚Lethe‘ auf meiner Liste zu verwendender Bilder steht. Der Klammwald ist ein Ort, der schon länger in der Nocte-Textlandschaft beheimatet ist, wenn auch bislang in keinem veröffentlichten Song. Hier handelt es sich um eine Zeile aus ‚Trollgott‘, die für das zunächst Leise, Schlummernde, Geheimnisvolle steht, das aus der Dunkelheit oder dem Unerforschten kommt, um sich Bahn zu brechen und zu entfalten.“


Als wir auf die hauptsächlichen lyrischen Inhalte und thematischen Hintergründe des neuen Albums zu sprechen kommen, gerät der Mann so richtig in Redefluss.


„Es handelt sich um eine wie immer stark verklausulierte und selbst für Leute aus meinem Umfeld wohl nur teilweise zu entschlüsselnde Mischung aus tatsächlichen Erlebnissen oder Ereignissen und reinen Geschichten oder Stimmungen. ‚Innsmouth Hotel‘ bezieht sich ganz offensichtlich auf Lovecrafts ‚Shadow Over Innsmouth‘. ‚Die Kirche der wachenden Kinder‘ beschäftigt sich mit dem Niedergang einer Zivilisation und (Spaß)gesellschaft, die unterbewusst den Sog der Verderbnis sieht, sich dem aber nicht stellt. ‚Trollgott‘ ist eines unserer vielleicht positivsten Lieder überhaupt und hat Tatendrang, Aufbruch, Schaffenskraft und die Freude am aktiven Leben einerseits und den Träumen andererseits zum Inhalt. ‚Totholz‘ sagt einfach nur ‚wir sind wieder zu Hause‘. ‚Ein stählernes Lied‘ beschreibt den zermürbenden und lethargischen Zustand nach einem sehr guten Lebensabschnitt, dessen Ende man selbst verschuldet hat. ‚Liebster‘ dreht sich um den Untergang eines Kriegsschiffes vor dessen Hintergrund die Auslöschung des Individuums den ideologischen Überbau absurd erscheinen lässt, bevor alles in Kälte und Schwärze verschwindet. ‚Wiedergänger Blues‘ ist letztlich nichts weiter als eine Art Gespenstergeschichte, in die entsprechende Erinnerungen von der Kindheit über die Jugend bis in die Gegenwart eingeflossen sind.“

Jeder Text hat seine eigene Geschichte und wirkt auf ihn persönlich auch je nach Stimmung und Lebenssituation unterschiedlich, so Marcel.

„Vielleicht spielt ‚Liebster‘ eine besondere Rolle, allerdings ist hier auch die Verbindung zur Musik wichtig. Meine besondere Beziehung zu diesem Lied ist allerdings weder in Inhalt noch in Ausführung zu suchen, sondern vielmehr in seiner Entstehungsgeschichte, die schwerpunktmäßig in der großartigen Zeit zwischen ‚Stille‘ und ‚Nektar‘ liegt, obwohl der Mittelteil sogar aus den tiefsten 90ern stammt.“

Die Stücke der neuen Veröffentlichung „Totholz (Ein Raunen aus dem Klammwald)“ sind intensiv, dunkel, geheimnisvoll, abgründig und hochgradig mystisch.

Die Frage, ob er selbst auch ein (düster)philosophisch ausgerichteter, primär der Natur verbundener und eher misanthropisch veranlagter Mensch ist, lässt den Bassisten zunächst ins Sinnieren geraten.


„Das hängt von der Tagesform und Lebenslage ab. Ich mache mir eher zu viel als zu wenig Gedanken, schätze aber freundschaftliches Beisammensein und gute Laune sehr. Und auch wenn ich mir noch immer regelmäßig anhören muss, dass ich ein kauziger, grüblerischer Typ bin, der spaßigen Erlebnissen fernbleibt und alles zerdenkt, mache ich heute Dinge, die ich früher nicht gemacht hätte. Zum Beispiel mit ein paar Leuten in den Sommerurlaub fahren oder einen Massenmagneten wie Iron Maiden live ansehen.“

Wenn Nocte Obducta mit den neuen Stücken die Bühnen entern werden, dann wird es ihnen laut Marcel am meisten auf eine Umsetzung ankommen, welche die Band im Rahmen ihrer Möglichkeiten zufrieden stellt und sich nicht zwingend an die Stimmung des Albums hält. 



„Es mag abgedroschen klingen, aber diese Art von Musik kann etwas sehr rituelles und intimes haben, was in meinen Augen nicht zu einer Darbietung in einem in aller Regel technisch mittelmäßig ausgestatteten Raum voller Betrunkener passt. Wir werden also versuchen, die düstere Energie der Alben mit dem Geist von Rock'n'Roll und Punk zu vereinen und dazu ebenfalls vom Bier naschen, denn niemand sieht gerne zu wenn andere trinken.“


So hofft der Tieftöner natürlich, dass die Tour im Herbst ein angemessener Spaß wird, wie er noch sagt. „Ansonsten bin ich mit dem Kopf schon längst bei den beiden kommenden Alben, an denen ich gerade sitze. ‚Totholz‘ ist im Kasten und für mich damit erst einmal abgeschlossen.“

© Markus Eck, 10.05.2017

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